Zersplittert



One Moment – Reihe.

Teil 1: Zersplittert!

 


Einleitung 

….manchmal reicht eine kleine Änderung des Alltags, eine Begebenheit, ein Schicksalsschlag, um das komplette Leben eines Menschen auf den Kopf zu stellen.

… es durcheinander zu bringen, aus den Fugen zu reißen oder auch komplett zu zerstören.

Manchmal lässt es sich mit viel Geduld und Ausdauer wieder kitten.

Sehr oft aber auch nicht.

Manchmal hat es auch sehr viel tragischere Auswirkungen, als man auf den ersten Blick sieht…

 

Cindy

… Diese schmerzhafte Erfahrung musste Cindy machen, nachdem sie den Briefkasten an diesem schönen Frühlingsmorgen im Mai geöffnet hatte.

Die Sonne strahlte. Die Vögel zwitscherten.

Ihr Verlobter hatte eben die Kinder in Schule und Kindergarten gebracht und hatte sich mit den Worten verabschiedet, dass er danach noch zu seinen Eltern fahren wolle, 30 km von ihrem derzeitigen Wohnort entfernt. 

Die Einkäufe würde er auf dem Heimweg erledigen.

Ob sie die Hausmeister-Arbeiten heute alleine schaffen würde?

Cindy war die Aufgaben kurz durchgegangen: Hof und Gehwege sowie die Zufahrt kehren. Kein Problem.

Unkraut entfernen, Rasen mähen und im Haus sämtliche Fenster putzen: Sollte ebenfalls kein Problem sein.

Sie ging die Schritte kurz im Kopf durch und rechnete sich aus, dass sie so bis 11 Uhr fertig sein sollte.

Genügend Zeit also, um das Mittagessen vorzubereiten und die Kinder abzuholen.

Erst Tina, die gerade eingeschult worden war und dann mit ihr zusammen den kleinen Peter abholen.

Peter war eben 3 geworden und liebte seine Schnupperwoche im Kindergarten.

Sie konnte ihn kaum dazu bewegen, wieder mit nach Hause zu kommen.

Mit einem weinenden und einem lachenden Auge hatte sie dies bereits am ersten Tag zur Kenntnis nehmen müssen.  

Weinend, weil er ihr Baby war und sie sich total unnütz und nicht mehr gebraucht fühlte.

Lachend, weil es bei Tina bis heute ein Riesen-Akt war, sich zu verabschieden und sie dazu zu bewegen, in der Schule zu bleiben.

Tina hasste Verabschiedungen.

Sie hasste die Schule und sie hasste ihre Mitschüler.

Sie wollte einfach nur zuhause bei ihren Eltern sein und in ihrem Zimmer spielen.

Nicht so Peter.

Der hatte sich direkt von Cindy losgerissen, war freudig auf die anderen Kinder zugestürmt und hatte angefangen, mit ihnen Burgen zu bauen.

Als sie ihm nach einer Stunde sagte, dass sie nun kurz gehe, hatte er dies mit einem gleichgültigen Schulterzucken beantwortet.

 

Cindy nickte bejahend und küsste ihren Bald-Ehemann auf den Mund.

Sie waren bereits 12 Jahre zusammen.

Aber sie liebte ihn wie am ersten Tag.

Jede Sekunde, die er nicht mit ihr verbrachte, schmerzte.

Jedoch wusste sie, dass kleine Trennungen nun mal sein mussten.

„Schaff ich alles“, sagte sie gut gelaunt und streichelte ihm noch mal liebevoll über die Wange.

Simon wandt sich ab, „Bis später. Bin spätestens heute Nachmittag wieder zuhause“, und verließ die Wohnung, um zu seinem Auto zu gehen.

Cindy küsste ihre Kinder liebevoll auf die Stirn und streichelte ihnen über den Kopf, ehe diese ihrem Vater folgten.

„Ich liebe Dich, Babe.“ Simon zwinkerte ihr zu und schickte ihr einen Handkuss.

Sie „fing“ den Kuss, setzte ihn sich auf ihre Lippen und zwinkerte zurück, „Dito“. 

Dann stiegen die drei ins Auto und fuhren los. 

Cindy seufzte und machte sich an die Arbeit.

 

Es war genau 11 Uhr, als sie mit der Arbeit fertig war und sah, dass der Postbote auf seinem Fahrrad um die Ecke bog.

Sie lief ihm langsam entgegen, ein gegenseitiges „Guten Morgen“ folgte und er reichte ihr den einzigen Brief des heutigen Tages.

„Bis morgen dann“, sagte der Briefträger fröhlich und war auch schon wieder verschwunden.

„…Morgen“, raunte Cindy kurz angebunden und starrte weiter auf den Brief, der ihr komplettes Leben verändern sollte.

´Anwaltskanzlei Richard Steinbeck´ stand da als Absender.

Cindy hatte keine Ahnung, was ein Anwalt von ihr wollte, aber ihr wurde schlecht und ihr Magen spielte verrückt.

Abergläubisch war sie nicht, aber sie hatte, als sie das Schreiben entgegengenommen hatte, das ungute Gefühl, dass der etwas richtig Schlimmes zu bedeuten hatte.

Wie in Zeitlupe kramte sie ihren Schlüssel heraus und begab sich die zwei Stufen bis zu ihrer Wohnungstür nach oben.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Schlüssel endlich in der Tür steckte und diese aufgeschlossen war.

Cindy schloss die Tür hinter sich und setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch.

Nun hektisch, riss sie den Brief auf und überflog die Zeilen.

Die junge Frau las die Zeilen immer und immer wieder. Von vorne nach hinten, von hinten nach vorne.

Eine Zeile, Zeile übersprungen, die letzte Zeile… Sie verstand den Text, sehr gut sogar.

Sie kapierte ihn nur nicht.

Das Ganze musste ein Missverständnis sein.

 

„Sehr geehrte Frau Meyer, 

im Auftrag meines Mandanten Herrn Simon Karlfelder, teile ich Ihnen mit, dass mein Mandant das gemeinsame Sorgerecht ihrer beiden Kinder Tina Karlfelder, geboren am 28.10.2003 und Peter Karlfelder, geboren am 25.04.2008 eingeklagt hat.

[…..] Eilverfahren…. Höchstens 5 Monate….. […..] Des Weiteren bitten wir Sie, im Namen unseres Mandanten, unverzüglich die Wohnung zu räumen.

Wir geben Ihnen hierfür eine Frist bis zum 20.05.2011.

[….] Kindswohlgefährdung …. […..] Wir appellieren an Ihren gesunden Menschenverstand und Ihre Liebe zu Ihren Kindern.

Bitte verlassen Sie bis zu genannter Frist die gemeinsamen Wohnräume.

[…] Die Kinder bleiben, nach gemeinsamer Absprache mit dem Jugendamt, zu deren Schutz und um weitere Gefährdungen zu vermeiden, in der alleinigen Obhut ihres Vaters.

Bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung können Sie die Kinder, nach Absprache mit dem Kindsvater, besuchen.

[bla bla bla….] Mit freundlichen Grüßen, Dr. Richard Steinbeck“

 

Cindy tat das Einzige für sie Logische und holte das Telefon.

Sie hatte weiche Knie und ihre Hände zitterten.

Mit Sicherheit hatte dieser Dr. Steinbeck dieses Schreiben an die falsche Person adressiert.

Cindy nickte sich selbst ermutigend zu.

Ihr wurde schummrig vor den Augen, doch sie riss sich zusammen und wählte die Nummer der Anwaltskanzlei.

Nach zweimaligem Klingeln meldete sich die Sekretärin und ihrer Stimme nach, war sie kein bisschen erstaunt „Frau Meyer“ am Telefon zu haben.

Freundlich und bestimmt teilte sie ihr mit, dass der Brief sehr wohl seine Richtigkeit hat.

Es wäre ihr, Frau Meyer, aber nicht gestattet, mit Herrn Steinbeck zu reden, der sei schließlich der Anwalt ihres Ex.

´EX? Aha´, dachte Cindy zornig, ´Jetzt ist er also schon mein Ex?!´

Sie merkte, wie ihr die Galle hochstieg und ihr gleichzeitig ein hysterisches Lachen entfuhr.

Die weiteren Worte wartete sie gar nicht erst ab.

Sie packte das Telefon und schmiss es gegen die Wand.

Das Vorderteil brach ab und die Batterien purzelten heraus, als es am Boden aufkam. 

Hektisch stürmte sie ins Schlafzimmer, holte zwei Koffer hervor und stopfte das Notwendigste für sich hinein.

Den zweiten Koffer schleppte sie ins gemeinsame Kinderzimmer ihrer zwei Engel und packte auch dort das Allernotwendigste zusammen.

Noch schnell die Versichertenkarte, Personalausweis, Untersuchungshefte… da klingelte es an der Haustür und unterbrach die Brünette in ihrer wütenden Packerei.

Entnervt verdrehte sie die Augen und schnaubte an die Tür.

Als sie diese geöffnet hatte, wollte sie gerade los maulen, doch dazu kam sie vor Schreck gar nicht.

Vor ihr stand ihre persönliche Familienhilfe, die die letzten vier Monate regelmäßig bei ihnen zu Besuch gewesen war, um sie in der Erziehung von Tina zu unterstützen.

Daneben ein großer, grimmig dreinschauender Mann mit Brille, den sie nicht kannte und zwei Polizeibeamte.

Einer davon ihr Nachbar Marcus.

 

„Marcus … was ist?...“ Sie blickte verwirrt von ihrem Nachbarn zur Familienhilfe. „Frau Schneider?“

Cindy sah wie Marcus große Mühe hatte, sich professionell zu verhalten.

„Frau Meyer…“, er räusperte sich und blickte verlegen zu Boden. „Dürften wir bitte reinkommen?“

´Meine Kinder´ Cindy durchfuhr es heiß und kalt gleichzeitig. „Meine Kinder. Wie spät ist es? Ich muss meine Kinder abholen.“

Frau Schneider, die Familienhilfe, blickte kurz auf ihre goldene Armbanduhr und nickte dem großen Mann mit Brille zu. „Schaffst du das alleine, Edgar? Ich hol die Zwei ab.“

Verwirrt aber erleichtert bedankte sich Cindy, doch ihre Familienhilfe würdigte sie keines Blickes und drehte sich wortlos auf dem Absatz um.

Cindy war nun noch verwirrter.

Sie nickte ihrem Nachbarn nur kurz zu und deutete mit ihrer rechten Hand an, einzutreten.

 

Die nächsten zwei Stunden verliefen wie in Zeitlupe und irrealer als all das, was die junge Mutter eh schon den ganzen Tag durchleben musste.

Frau Schneider kam nicht wieder.

Die hatte wohl, soweit sie das von dem großen Herrn mit Brille, also ´Edgar´, richtig verstanden hatte, die Kinder abgeholt und zu sich nach Hause mitgenommen.

Dort sollten sie verbleiben, bis sie, Cindy, die Wohnung verlassen und der Kindsvater wieder zuhause war.

„Das ist doch ein Scherz. Ein verdammter, unwitziger Scherz!“

Das war der so ziemlich einzig vernünftige Satz, den Cindy denken und aussprechen konnte.

Marcus saß ihr gegenüber und Cindy sah ihm sein Elend an.

Laut seiner Miene ging es ihm mindestens genauso schlecht wie ihr.

Sie kapierte noch immer nicht, was hier vonstatten ging.

Ihr Kopf hatte alle Mühe die Informationen zu verarbeiten, doch irgendwie funktionierte ihr Körper trotzdem.

Cindy blickte wie ferngesteuert zu dem beschädigten Telefon am Boden. „Mutter anrufen.“

Marcus folgte ihrem Blick, stand auf und setzte das Telefon wieder zusammen.

Er drückte den grünen Knopf und ein Freizeichen ertönte. „Geht noch“ sagte er lapidar, während er es seiner Nachbarin reichte.

Cindy wählte blind die Nummer ihrer Mutter.

Zu ihrem Erstaunen war direkt die Person am Telefon, die sie brauchte.

„Bernd? Cindy hier. Tut mir schrecklich leid, dass ich Dich beim schlafen störe, aber kannst Du mich abholen?“

Bernd war ihr Stiefvater und Taxifahrer.

Da er nachts arbeitete, schlief er meist tagsüber.

Cindys Verwirrtheit verwandelte sich nun langsam in Wut.

Die Drei „Eindringlinge“ starrten sie geradezu an, wie sie fand. 

Höhnisch! 

Gehässig.

Siegessicher.

Überlegen!

Cindy spürte wie die Wut aufkochte und sich das verzweifelte Zittern in eines verwandelte, was sie jeden Moment zum explodieren bringen könnte.

„Ja, sofort. Ich erklär Dir alles auf der Heimfahrt. Danke. Hab Dich lieb, Daddy.“

Dann legte sie auf.

 

„Wenn Sie nun bitte MEINE Wohnung verlassen und draußen warten würden.“

´Edgar´ stellte sich breiter-machend als er tatsächlich war, mit den Händen in die Hüften gestemmt, ihr gegenüber „Frau Meyer, wenn ich an Ihre Vernunft app…“, weiter kam er nicht, denn die junge Mutter hatte nun fast jegliche Beherrschung verloren.

„Verpiss Dich aus meinen vier Wänden und halt Deine blöde Fresse, Du aufgeblasener Wixer.

Vernunft? Ihr könnt mich mal alle, von wegen Vernunft!“

Sie packte seine Aktentasche, rannte geradezu damit an die Tür, riss diese auf und schmiss die Tasche ins Treppenhaus.

Hektisch gefolgt von den zwei Polizisten, die sie verwirrt anstarrten.

Doch das machte Cindy nur noch wütender.

„RAUS HIER!“ Sie deutete mit dem Arm nach draußen.

´Edgar´ kam angerannt, schoß an ihr vorbei und nahm hektisch, jedoch fast liebevoll seinen Aktenkoffer an sich.

„RAUS!“ giftete sie nun ihren Nachbarn an, der seinem Kollegen einen vielsagenden Blick zuwarf.

Schließlich verlor die Brünette komplett die Fassung.

Dass ihr „Ex“ unter Umständen, ein Arsch sein konnte: Ja, das hatte sie gewusst.

Sie hatte ebenfalls seit 2-3 Jahren geahnt, dass er ihr irgendwann ein „Messer in den Rücken“ jagen würde.

Das war irgendwie klar gewesen.

Auch wenn sie sich blind gestellt und alle Warnhinweise ignoriert hatte. 

Aber Marcus? Wie hatte Marcus ihr das antun können? 

Sie holte aus und verpasste dem Polizisten eine schallende Ohrfeige.

Marcus blickte sie verdutzt an. 

„Du…“, Cindys Unterlippe zitterte, „Raus aus meiner Wohnung und lass Dich nie mehr sehen. Hörst Du? Nie mehr!“

 

Als die Polizisten gegangen waren, knallte sie die Tür hinter ihnen zu und machte sich dran, weitere Habseligkeiten zusammen zu suchen.

Wer wusste, wann oder ob sie jemals wieder in der Lage war, diese Wohnung zu betreten und persönliche Habseligkeiten zusammen zu packen.

Als sie im Bad ihre letzten Toilettenartikel verstaut hatte, brach alles auf sie ein.

Der Brief.

Der Verrat von Marcus und Simon.

Die angebliche Frist und der plötzliche polizeiliche Rauswurf.

Die unglaublichen Lügen.

Die einstweilige Verfügung, die Simon innerhalb von ein paar Tagen veranlasst hatte.

Einstweilige Verfügung! Gegen SIE!

Ihr Kopf fuhr Achterbahn und sie stellte sich 1000 Fragen.

Wie hatte es soweit kommen können? Was musste er für Lügen erzählt haben, dass nun die „ganze Welt“ gegen sie war?

Und die wichtigste und zentralste Frage überhaupt: WARUM? 

Cindy brach weinend zusammen und ließ sich zu Boden sinken.

Sie schrie ihre Tränen geradezu raus.

Experten würden das wohl als einen Nervenzusammenbruch der Extra-Klasse bezeichnen.

Sie weinte, sie schrie, sie boxte wie von Sinnen mit ihren schmalen Fäusten an den Badezimmerschrank, bis ihre Knöchel bluteten.

Dann krampfte sich ihr Brustkorb zusammen und ihr wurde schwarz vor Augen.

Cindy japste panisch nach Luft.

Blitze zuckten vor ihren geschlossenen Augen auf.

 

…Etwas fiel klirrend ins Waschbecken und lenkte sie von ihrer stärker werdenden  Panikattacke ab.

Cindy richtete sich umständlich auf und blickte ins Waschbecken.

Vor ihr lag silbern und glänzend das Rasiermesser ihres Verlobten. 

Ihres Ex.

Dem Kindervater. 

Simon!

Simon stand auf „Vintage“ Artikel und so hatte Cindy ihm dieses Rasiermesser, was sie immer an „Sweeney Todd“ erinnerte, zu seinem letzten Geburtstag geschenkt.

Durch ihren Tobsuchtsanfall war es heruntergefallen.

Die Brünette dachte nicht lange nach.

Sie nahm das Messer beinahe andächtig in ihre rechte Hand, legte das Gelenk ihres linken Arms frei, schloss die Augen, atmete einmal tief durch und dann ließ sie die Klinge tief in ihr Fleisch gleiten…

 

Epilog

20 Jahre später: 

Peter Meyer saß in seiner kleinen 4m² Zelle und starrte die Betonwand vor ihm an.

Links über seinem kleinen Tisch, der als Schreibtisch und Essgelegenheit diente, hing ein kleines Passfoto einer jungen brünetten Frau, Anfang 20.

Sie lächelte ihn liebevoll an.

Ihre Augen strahlten wie Sterne.  

Das Bild hatte eingerissene Ecken und vergilbte Kanten.

Mehrere Kleberänder waren ebenfalls vorhanden.

Der dunkelblonde Mann, der für seine 23 Jahre wesentlich älter aussah und schon erste graue Haare hatte, stand mühsam von seiner quietschenden Pritsche mit der durchgelegenen Matratze auf.

In der Hand hielt er einen Brief, der nicht größer war als eine Postkarte.

Diesem war ein Bild beigefügt. 

Ein Foto, was ihn zusammen mit seiner Schwester Tina zeigte.

Dieses Bild war an seinem 3. Geburtstag entstanden.

Einige Tage bevor sein Vater mit ihm zum Jugendamt gefahren war, um denen eine Geschichte über seine Mutter zu erzählen.

Drei Wochen bevor seine Mutter sich in Verzweiflung die Pulsadern geöffnet hatte.

Drei Wochen und eine halbe Stunde bevor sein Opa die blutüberströmte Leiche seiner Tochter gefunden hatte.

Er hatte sie gefunden, nachdem sie nicht öffnete und die zwei Polizisten, die vor der Tür warteten, die Tür eingetreten hatten.

 

Wochenlang hatte sein Vater ihm Geschichten erzählt.

Solche Geschichten, wie er sie auch dem Jugendamt und seinem Anwalt vorgetragen hatte.

Damals hatte es Peter nicht verstanden und er hatte seinem Vater geglaubt.

 

Jahrelang dachte Peter, dass seine Mama ihn nicht mehr lieb hatte und deshalb weggegangen war.

Durch Zufall erfuhr er die Wahrheit.

Tina hatte, in ihrer Neugier, Dokumente ihres Vaters gelesen und seinen Facebook Account gehackt.

Die Nachbarin, die ihnen immer als liebe, lustige Freundin zur Seite stand, hatte eine Affäre mit ihm angefangen und die „Abschaffung“ ihrer Mutter penibel geplant.

Zwei Jahre lang!

Für sie beide war eine Welt zusammengebrochen. 

Tina, die mittlerweile 16 Jahre alt war, ließ sich in eine Unterkunft für junge Heranwachsende unterbringen. 

Dort lernte sie alles Lebensnotwendige, absolvierte ihre Ausbildung zur Schneiderin und zog schließlich weit weg.

Peter wusste aus Briefen, dass sie eine Psychotherapie begonnen hatte und schwer mit sich zu kämpfen hatte.

Immer wieder überwältigten sie ihre Depressionen und die Selbstvorwürfe.

Beide hatten, sobald sie volljährig wurden, den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen.

Da ihre Eltern nie verheiratet gewesen waren, war es eine Leichtigkeit gewesen.

Das Mitleid der Standesbeamtin, die Tina beide Male aufgesucht und der sie die tragischen Vorfälle geschildert, die zu Mamas Tod geführt hatten, half natürlich auch immens. 

 

Peter wurde mit 12 Jahren das erste Mal auffällig.

Er schwänzte die Schule, rauchte und fing bald mit Drogen an.

Schlägereien standen auf der Tagesordnung und mit 14 landete er das erste Mal im Jugendknast.

Da hatte der junge Mann die meiste Zeit, während der letzten neun Jahre verbracht. 

Wenn er denn mal auf freiem Fuß war, knallte er sich den Kopf mit illegalen Substanzen und hochprozentigem zu.
 Dies wiederum ließ ihn aggressiv werden und wer-auch-immer ihn nur auf eine Weise anschaute, die ihm gerade nicht passte, bekam „auf die Fresse“.

Anfangs mit seinen Fäusten.

Später besorgte sich Peter illegale Schlagwaffen, Baseballschläger - wenn es nicht anders ging, wurde einfach ein herumliegender Stock zum Tatwerkzeug. 

Der letzte Kerl, der ihn „falsch“ angeschaut hatte, war unglücklich gestürzt und hatte sich dabei das Genick gebrochen.

Peter wartete noch auf seine Gerichtsverhandlung, aber der Anwalt, der ihm gestellt worden war, malte ihm keine Chancen auf eine geringe Strafe aus. 

Eigentlich war ihm das auch egal.

Das Leben war eh Scheiße, seit seine Mutter weg war und der Vater mit einer neuen Frau ein neues Leben angefangen hatte.

Sandra war immer gut zu ihm gewesen und hatte sich sehr bemüht.

Aber sie war eben nicht seine Mutter. 

Und seit seinem 11. Lebensjahr wusste er dann auch, dass sie der Grund gewesen war, weshalb seine Mutter frühzeitig „gegangen“ war. 

Nachdem die große Intrige seines Vaters aufgeflogen war, hatte er eh nur noch jeden, inklusive sich selbst, gehasst.

 

Peter setzte sich auf seinen Stuhl und fing zu weinen an.

Sorgsam holte er das Klebeband aus dem Regal und riss zwei Streifen ab.

Das Bild, das er heute erhalten hatte, hängte er liebevoll neben das seiner Mutter.

Das Bild von ihr war an dem Tag aufgenommen worden, als sie Simon kennen gelernt hatte.

Peter nannte seinen Erzeuger nur mit Vornamen, da er der Meinung war, dass dieser Unmensch es nicht verdient hatte, von ihm Vater genannt zu werden.

Peter wischte sich die Tränen ab und starrte nochmal auf den Brief.

„Lieber Peter,

Du weißt, ich liebe Dich über alles, aber ich kann dieses Leben nicht mehr ertragen.

Ich weiß auch nicht, wie ich dir helfen kann, weil ich mit meinem eigenen Leben überfordert bin.

Paß auf Dich auf, Kleiner.

Ich liebe Dich, Tin Tin“

Peter wendete den Brief. 

„PS: Bitte verzeih mir!!!

Aber ich werde Mama folgen, damit sie endlich nicht mehr alleine ist und weiß, dass ich sie liebe.

In ein paar Jahren haben wir uns alle wieder.“

Peter lachte.

„Tin Tin“ hatte er seine Schwester als 1-jähriger genannt, als er sprechen lernte.

Seitdem hatte sie diesen Spitznamen beibehalten und nur er durfte sie so nennen.

Sie hatte ihm das Bild beigelegt.

Eine Woche nachdem sie ihn verfasst hatte, hatte sein Anwalt ihn besucht und ihm den Brief überreicht. 

Er war derjenige, der ihm die Hiobsbotschaft überbrachte, dass seine Schwester sich mit gerade mal 28 Jahren das Leben genommen hatte.

„Sehr viel älter war Mutti auch nicht gewesen“, wisperte Peter zu sich selbst. 

Erst heute hatte er es übers Herz gebracht, ihn zu öffnen.

Erst heute ließ er den Schmerz, die Wut und die Trauer zu.

 

Peter stand erneut auf.

Er küsste erst das Bildnis seiner Schwester, dann das seiner Mutter.

Bis heute hatte er sich immer erfolgreich aus Ärger innerhalb des Gefängnisses herausgehalten.

Das würde jetzt ein Ende nehmen.

Peter grinste traurig.

Er wusste auch schon genau, mit wem er sich anlegen würde.

Chris, 52. Groß und muskulös. 

Mehrfach vorbestraft wegen Körperverletzung. Zuletzt Totschlag. 

Der war hier gefürchtet.

Da hatten selbst die Bullen Angst. 

„Mieser Kerl. Komm dem bloß nicht zu nahe“, hatte er mal, vor der Tür, ne Schluse (wie die Häftlinge, die Schließer hier nannten) sagen hören.

Mit Glück ging sein Plan auf und Chris schlug ihn schnell tot.

Mit Pech dauerte es.

Vielleicht Tage.

Vielleicht Wochen.

Vielleicht Monate.

Doch es würde passieren.

Peter zwinkerte seiner Familie zu, „Bin auch bald bei euch, Mutti und Tin Tin.

Ich liebe euch.“

Dann packte er seine Jacke und verließ die Zelle, um in die Kantine zum Mittagessen zu gehen…




Ende